Die indische Yoga-Wissenschaft hat eine 3.500 Jahre alte Geschichte. Oder sind es 5.000 Jahre? Zu welcher Zeit Yoga entstanden ist, kann nicht auf das Jahr genau gesagt werden. Und es scheint auch nicht relevant. Fest steht, dass sich über diesen Zeitraum eine schier unglaubliche Ansammlung von Wissen über den menschlichen Körper und Geist angesammelt hat. Zahlreiche Traditionslinien, von Shivananda bis Iyengar, sind über die Jahre entstanden und Millionen von Menschen haben sich auch im Westen auf den Weg des Yoga gemacht. Ein Weg, der für jeden anders aussehen kann. Aber eines ist klar: Wer sich auf den Weg macht, bleibt nicht derselbe.
Warum fasziniert eine so alte Philosophie Menschen auf der ganzen Welt?
Oder anders formuliert: Warum ist Yoga heute moderner denn je? Diese Frage ist leicht beantwortet: Yoga ist ein System, dass viele Probleme unserer Generation zu lösen scheint. Unser Kopf-Kino ist 24/7 geöffnet, Probleme verfolgen uns sogar oft im Schlaf. Oder schlimmer, sie bereiten uns schlaflose Nächte. Echte Yogis kennen solche Probleme nicht. Sie leben im Hier und Jetzt. Man muss dazu auch nicht in einer Höhle im Himalaya leben. Yoga beschreibt konkrete Wege für jeden und zeigt wie wir in einen friedvollen Zustand kommen. Das Tragen von moderner Yoga Bekleidung ist damit aber nicht gemeint.
Ursprünglich war Yoga eine ganz persönliche Beziehung zwischen einem Yogalehrer, dem Guru, und seinem Schüler. Yogaschüler genossen früher Einzelunterricht. Und zwar von Menschen, die Yoga erfahren haben. Oder zumindest glaubten Yoga erfahren zu haben. Yogaschüler von früher machten dabei auch nicht „Lehrerhopping“ bei der Suche nach ihrem spirituellen Meister. Die Suche nach dem eigenen Yogalehrer konnte viel Zeit in Anspruch nehmen und war ein Privileg. Auch heute empfiehlt es sich, engeren Kontakt zu einem kompetenten Yoga-Lehrer zu pflegen.
Die lange, aber nicht unendliche Geschichte
Das Yoga aus Indien kommt ist vielen sicherlich bekannt. Aber wer weiß, dass Yoga ursprünglich im Hinduismus angesiedelt war? Denn Yoga ist eines der sechs größten philosophischen Systeme bzw. Sichtweisen auf die Wirklichkeit (Darshanas). Doch seit dem weisen Patanjali vor etwa 2.000 Jahren hat sich Yoga von seiner religiösen Bindung gelöst und gilt heute eher als atheistisch. Yoga scheint ebenso neutral zu sein wie die Physik – seine Erkenntnisse kann man glauben oder auch nicht. Und mit diesen drei Epochen hat alles begonnen:
Prevedisch | Veda | Postvedisch |
ca. 1.500 v. Chr. | ca. 1.000 v. Chr. | ca. 500 v. Chr. – 1.200 n. Chr. |
Die Harappakultur war eine Hochkultur, die in ihrer Sprache bereits eine eigene Grammatik hatte. Man fand erste yogische Bilder in Ton gebrannt. | Die Arier haben die Anbauweisen der Harappakultur übernommen. Dieses kriegerische Volk hat seine Feinde assimiliert und es gab bereits das Kastensystem. | Es gab Kulturen, die sich Veda zugewandt haben, andere haben sich abgewandt. Ein Auszug: Samkhya, Yoga, Vedanta, Buddhismus, Jainismus, Ayurveda. |
Vedische Zeit
Yoga ist auch nicht, wie viele glauben, nur Love, Peace and Happiness. Uralte Textsammlungen, die Veden (übersetzt Wissen), können wie das alte Testament im Christentum gesehen werden. Sie beschreiben Opferhandlungen, Feuerrituale und Ekstase Techniken. So wurden in der vedischen Zeit schon mal 1.000 Hengste geopfert um die Götter zu besänftigen. Später kam es aber zu einer Gegenbewegung: Das äußere Opfer wurde durch innere Opfer ersetzt und statt Tiere opferte man nun symbolisch den Atem.
800 v. Chr. wurden diese Abhandlungen in den Upanishaden (Bestandteil des Veda) niedergeschrieben. Dabei wurden existenzielle Fragen über die Menschheit in Dialogform zwischen Lehrer und Schüler auf Papier gebracht. Ergebnis ist die Lehre, dass Gott und die Schöpfung identisch sind. Klarerweise wurden dadurch auch Opfer und Rituale überflüssig. Es geht darum das göttliche Selbst (Atman) in sich zu erkennen. Zu dieser Zeit entstand auch das Konzept der Wiedergeburt (Samsara) und der Glaube an das persönliche Schicksal (Karma – Prinzip der Ursache und Wirkung). Die Zeit war reif und Yoga wurde in Indien populär.
Yoga für Jedermann und Jederfrau
Während zu Beginn vor allem Asketen und Rishis (so genannte Seher) Yoga übten, fand Yoga nun auch bei den Kasten, die den Hinduismus nicht ausüben durften, Anklang.
Menschen niederer Kasten, Ureinwohner oder Frauen hatten ursprünglich keinen Zugang zu religiösem Wissen. Die Brahmanen ließen sich ihr Wissen teuer bezahlen und machten Religion zu einer Angelegenheit der Männer in den oberen drei Kasten. Yoga hingegen ermöglichte Techniken für jeden Menschen, da Gott ja im eigenen Inneren gesucht wird. Jeder konnte die Zügel selbst in die Hand nehmen. Und Yoga heißt übersetzt aus dem indogermanischen ja auch nichts anderes, als „Gespann“, dessen Ziel es ist die wilden Rösser der fünf Sinne zu zügeln. Hört sich romantisch an oder? Leider war es in der Praxis dann doch so, dass nur jene Yoga praktizieren konnten, die auch fähig waren die Schriften zu lesen, die in der alten geheiligten Sprache Sanskrit geschrieben war. Und das konnten nur wenige.
Ab ungefähr 500 n. Chr. gab es eine religiös gefärbte Revolution in Indien – auch als Tantrismus bekannt. Die Tantriker wollten allen Menschen den Zugang zur Religion ermöglichen. Auch die Wertschätzung des Körpers hat sich in dieser Zeit revolutioniert. Denn während es zuvor lediglich den Lotussitz gab, entwickelte man nun weitere Asanas um die Gesundheit des Körpers aufrecht zu erhalten und das lange Sitzen in der Meditation zu ermöglichen. Asanas, wie wir sie heute kennen, waren das aber nicht. Vielmehr handelte es sich um abgewandelte Sitzhaltungen.
Körperbetontes Hatha-Yoga
Im 8. Jahrhundert nach Christus wurde Hatha-Yoga wurde auf der Grundlage des Tantrismus geboren. Die Meister des Hatha-Yoga entwickelten einen Übungsweg mit Körperhaltungen (Asanas), Reinigungsübungen (Kriya), Atemtechniken (Pranayama), Konzentration (Dharana), Visualisation (z.B. Mandalas) und Übungen die den Klang miteinbeziehen (Nada).
Happy End oder der Anfang vom Ende?
Im Mittelalter stand Yoga in Indien für jeden offen. Ab 1500 n. Chr. bekam die Erfolgsstory aber einen Dämpfer, da sich die streng religiösen Systeme wieder durchsetzten. Erst im 20. Jahrhundert blühte das Yoga-System wieder auf. Man begann mit ersten wissenschaftlichen Forschungen und teilte Erkenntnisse mit anderen Kulturen.
Vivekananda bringt Yoga in den Westen
Impulsgebend dafür, dass Yoga heute so populär ist, war ein Auftritt von Swami Vivekananda beim „Weltparlament der Religionen“ im Jahr 1893 in Chicago. Er forderte eine Harmonie zwischen den Religionen von Ost und West und verkündete, dass alle Religionen zu Gott führen. Nichts an diesem charismatischen Menschen mit der prachtvollen roten Mönchsrobe ließ vermuten, dass er in der Nacht zuvor wie ein Obdachloser in einem leeren Zug am Bahnhof verbracht hatte. Warum? Aufgrund seiner Hautfarbe bekam Swami Vivekananda kein Hotelzimmer.
Willkommen in Europa
1930 tauchte in Europa das körperbetonte Hatha-Yoga auf. Dreißig Jahre später fand man bereits eine Vielzahl von Yoga-Literatur und Sendereihen. Yoga wurde nun geübt um gesund, schlank und konzentrierter die Herausforderungen des Alltags zu bewältigen.
30 weitere Jahre vergingen und der Aspekt der Selbstfindung rückte wieder stärker in den Vordergrund. Gleichzeitig wurden die Asanas immer weiter verfeinert. Unzählige Traditionslinien (aktuell z.B. Acro-Yoga, Bikram Yoga oder das therapeuthisch-orientierte Vini-Yoga), Philosophien und Techniken haben sich entwickelt – doch trotz seiner Wandlung über Jahrtausende ist die Essenz des Yoga nie verloren gegangen. Und diese Essenz kann man nicht beschreiben, sondern man muss sie selbst (er)leben.